Paris Fashion Week SS20: Backstage bei Thom Browne
Während bei den Frauen die Pariser Haute Couture Woche sämtliche künstlerischen Träume erfüllt und Einzelteile ohne erkennbares Preislimit über den Runway geschickt werden, halten sich Menswear-Designer in Sachen exzentrischer Kreativität meist bedeckt. Schließlich stehen hier männliche Gewohnheiten und der Wunsch nach Funktionalität im Vordergrund. Das Wagnis diesen Status Quo zu challengen gehen die wenigsten ein, schließlich klingeln spätesten bei der „Verkauft sich das?“-Frage die Alarmglocken sämtlicher Anleger, Einkäufer und Journalisten. Einer der diese Herausforderungen zu meistern scheint, ist kein geringerer als Thom Browne. Im Rahmen der Pariser Men’s Fashion Week habe ich mir deshalb die Show des gebürtigen Amerikaners etwas genauer angesehen und Backstage nach Antworten auf die Frage der Fragen gesucht: Wieviel Kunst darf Mode sein?
Eines steht fest: Die Menswear Shows von Thom Browne sind etwas besonderes und in etwa so aufregend wie ein Ausflug in eine kunterbunte Freizeitpark-Erlebniswelt . Die Location: Seit Jahren die gleiche. In der Staatliche Hochschule der Schönen Künste Paris tummeln sich schon Stunden vor der Show eine überdurchschnittliche Anzahl an Visagisten, Models, Stylisten und Schneider und verwandeln die Katakomben in ein lebendiges offset Atelier. Spätestens hier wird das Ausmaß an künstlerischer Kreativität im Hause Thom Browne sichtbar. Atypische Silhouetten werden wie Rüstungen gefittet und letzte Nahtstiche per Hand gesetzt: Geordnetes Chaos. Einen Raum weiter sorgen unzählige Mac-Stylisten für das perfekte Makeup, das in den ikonischen rot-weiß-blauen Farben die männlichen Roben perfekt ergänzt. Letzte Anweisungen von Thom Browne gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Zurückhaltend und leicht nervös hält sich der Chefdesigner im schmalen Gang, in dem sich kurze Zeit später das Line-Up aufreihen wird, auf und verspricht mir in seiner typisch ruhigen Art eine tolle Show. Ein kurzer Small-Talk der mit den Worten „Du wirst heute den weltbesten Balletttänzer sehen“ endet. „Ich bin gespannt!“ erwiderte ich ihm während wir uns für das obligatorische Erinerrungsfoto positionieren.
Sichtlich beeindruckt vom künstlerischen Backstage-Niveau suchte ich in mitten der hochkarätigen Guestlist meinen Platz. Es war heiß. Die Sonnenstrahlen der Mittagshitze knallten förmlich durch das gläserne Dach des Gebäudes und brachten die schon nach Einlass der Gäste positionierten Models mit ihren überdimensionalen Kleidersäcken ins Schwitzen. Wie Kunstfiguren stehen sie da und werden auch solche betrachtet. Ich begutachtete das rege Treiben, begrüßte bekannte Gesichter und stellte spätestens an dieser Stelle fest, dass die Mythen einer Thom Browne Show wahrhaftig real sind: Es geht um mehr als nur um Mode. In unnachahmlicher Manier bewahrt uns Browne mit seiner gleichnamigen Marke den konservativen Mythos von Shows, die Kultur und Inszenierung vereinen. Shows, die die elitäre Nische bedienen und in ihrer westlichen Schneiderkunst maximal mit den Kreationen eines Zac Posen (Womenswear) und im Aufbau höchstens mit den legendären Chanel-Shows von Karl Lagerfeld (Womenswear) vergleichbar sind. Gegenüberstellungen im Menswear Bereich gibt es nicht wirklich.
Doch was bedeutet das jetzt? Ist eine derartig hohe Dosis an Kunst innerhalb der Mode tragbar? Oder ist sie gleichbedeutend mit einer Diskrepanz zwischen Kreativität und Umsatz? Fakt ist: Thom Browne bedient mit seinen kulturellen Shows die interessierte und intellektuelle Masse, dessen Sehnsucht nach etwas mehr Kultur gekonnt gestillt wird. Mit einem erwirtschaftetem Umsatz von etwas mehr als 1 Milliarde Umsatz im Jahr 2018 ist man jedoch weit entfernt von den Hochkarätern der Industrie. Gucci’s 8 Milliarden Umsatz scheinen hier unerreichbar. Dass dieser Vergleich in Wirklichkeit mehr als hinkt, lässt sich zwar nicht in Zahlen fassen, jedoch mit Blick auf den anhaltenden Werteverlust in Sachen kreativer Leidenschaft und Handwerk erklären: Thom Browne wahrt nicht nur das kulturelle Erbe der Mode als Kunstform, sondern ist in einer immer schneller gewordenen Industrie die sinnbildliche Bremse in einem Fahrzeug mit durchgedrücktem Gaspedal. Er ist die personifizierte Balance und bedient eine Nische, die fast konkurrenzlos zu sein scheint. Also ja, Mode darf Kunst sein! Um genauer zu sein, muss sie es bis zu einem gewissen Grad sogar. Denn wer Mode konstruiert, um fernab der Massen zu glänzen, inspiriert mehr als nur potentielle Kunden, er inspiriert eine ganze Industrie. Dass ausgerechnet Thom Browne zu dieser Galionsfigur wird, mag in der Ironie des Schicksals liegen. Denn einen Modeschule hat er nie besucht.
Fotos: Pat Domingo